Lesen Sie nachstehend, was Storytelling in Unternehmen bewirken kann: Die uralte Kunst des Geschichtenerzählens und ihre geradezu lebensnotwendige Bedeutung für uns Menschen wird mehr und mehr von Beratern und Trainern als wertvolle Unterstützung ihrer Arbeit genutzt. Sie setzen Storytelling mit Erfolg dazu ein, Eigenverantwortlichkeit und Kommunikationsfähigkeit von Führungskräften und Mitarbeitern zu erhöhen, die Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen zu verbessern, Mitgefühl und Verständnis zu schaffen, Teamentwicklung zu fördern, Konflikte zu lösen und Motivation, Visionsfähigkeit und Inspiration in Unternehmen zu steigern.
Dass ein so simples Instrument wie Geschichtenerzählen so tiefgreifende Auswirkungen hervorbringen soll, klingt zunächst unwahrscheinlich. Sieht man sich jedoch die „Geschichte des Geschichtenerzählens“ an, werden diese Ergebnisse nachvollziehbar.
Geschichte des Geschichtenerzählens
Geschichten haben unsere Vorfahren schon erzählt, als wir uns vor vielen Millionen Jahren schutzsuchend um ein Feuer versammelten. Während die Scheite prasselten und die Glut ihre Wärme ausstrahlte, gaben wir Geschichten weiter, um Wissen zu vermitteln, Geschehnisse zu interpretieren und Erfahrungen auszutauschen. Wenn wir heute zu zweit oder in einer Gruppe zusammenkommen, erzählen wir uns ebenfalls Ereignisse in Form von Geschichten. Diese enthalten nicht einfach Daten und Fakten, sondern vermitteln auch unsere Gefühle, unseren Blickwinkel und unsere Beurteilung des Geschehenen oder machen deutlich, dass wir gerade genau danach suchen. Durch unsere Geschichten realisieren wir selbst und unsere Zuhörer, wie wir uns mit dem Erzählten fühlen und geben der gelebten Erfahrung Bedeutung. Manchmal erfinden wir neue Geschichten, in denen wir zu leben oder zu arbeiten wünschen. Und wenn wir aufmerksam uns oder anderen zuhören, dann entdecken wir in den Geschichten auch Muster oder Glaubenssätze, die in unserem Leben zum Thema geworden sind.
Wenn wir Geschichten zuhören, können wir uns in den Erfahrungen anderer wiederfinden. Wir entdecken unvermutete Gemeinsamkeiten oder können die Einzigartigkeit des Erzählers erkennen. Geschichten eröffnen die Möglichkeit, einander tiefgreifend zu verstehen, Vorurteile abzubauen und einander in unserer Vielfalt zu respektieren.
Wenn wir selbst Geschichten erzählen, machen wir die Erfahrung, verstanden zu werden. Mehr und mehr Menschen leiden heute darunter, dass sie sich unverstanden fühlen. Gibt man ihnen die Möglichkeit, ihre Geschichten zu erzählen, ist dies ein sehr heilsamer Prozess.
Kulturen haben ihre „großen Erzählungen“. Das sind ihre Interpretationen tatsächlicher oder eingebildeter historischer Ereignisse. Und mit diesen Geschichten geben sie sowohl ihre Weisheit wie ihre Vorurteile und Glaubenssysteme an nachfolgende Generationen weiter. Das gilt nicht nur für die ganz alten Kulturen, deren Wissen in Geschichten kodiert ist. Auch jüngere Kulturen (Nationen, Landsmannschaften) haben ihre eigenen typischen Geschichten. Die Preußen haben sich vielleicht Geschichten vom „Alten Fritz“ erzählt, dem König, der Pflichterfüllung über alles stellte. Und das hat veranschaulicht, was es heißt, eine Preuße zu sein.
Dann gibt es in allen Teilen der Welt Mythen, Märchen und Heilige Schriften, die universelle Wahrheiten transportieren. Joseph Campbell, einer der berühmtesten Mythenforscher hat festgestellt, dass sie oft eine gemeinsame Struktur haben, die er die „Reise des Helden“ genannt hat. Solche Geschichten vermitteln tiefe Einsichten, Mut und Weisheit. Sie unterstützen uns darin, auch tiefgreifende persönliche Veränderungen zu meistern, und verhelfen uns zu einer sensibleren Wahrnehmung in unserer Interaktion mit anderen Menschen.
Storytelling Workshops in Unternehmen
Solche Erkenntnisse über die Funktion und Wirkung von Geschichten veranlassten Martin Rutte, einen gebürtigen Kanadier, der in den U.S.A. als Unternehmensberater arbeitet, dazu, das Geschichtenerzählen in die Unternehmen zu tragen. Er schreibt dazu aus seiner Erfahrung: „Als Berater ist es wichtig zu wissen, dass die Teilnehmer zunächst sehr sehr skeptisch sind. Sie haben vorher niemals eine solche Erfahrung gemacht. Es ist so sanft und einfach. Das kennen sie nicht. Wenn dann der Berater beginnt, Geschichten zu erzählen, kann man beobachten, wie sie immer entspannter werden. Sie bemerken plötzlich die Kraft in ihren eigenen Geschichten. Sie wissen, dass gute Geschichten Werte vermitteln, die sie gern in der Welt sehen würden. Und dann, wenn sie sich sicher genug fühlen, beginnt jemand „Wissen Sie, da fällt mir eine Geschichte ein, die vielleicht dazu passen könnte“. Und dann beginnen sie, Ihnen ihre Geschichten zu erzählen. Und wenn das passiert, verändert sich die Energie im Raum. Die ganze Atmosphäre wandelt sich. Die Teilnehmer entspannen. Die Menschen teilen sich mit. Sie verbinden sich mit der Menschlichkeit der anderen im Raum. Kürzlich las ich, dass eine Frau sagte: ‚ Stories sind die Verbindung zwischen der Seele und der Gemeinschaft‘.“
In seinem Buch „Chickensoup for the soul at Work“ veröffentlichte Rutte zusammen mit vier Co-Autoren Geschichten, die er für seine Storytelling Workshops einsetzt. Alle Geschichten stammen aus dem Kontext der Arbeit in Organisationen. Sie sind nach Themenbereichen geordnet wie „Kreativität am Arbeitsplatz“, „Hindernisse überwinden“, „Über Mut“, „Mitgefühlt“, etc. . Sie sind sehr bewegend und ein ermutigender Einstieg für die Gruppe. Für jeden Workshop wählt er die Geschichten jeweils so aus, dass sie thematisch zur Gruppe passen.
Was ein Storytelling Workshop bewirken kann, beschreibt Rutte so: „Die Menschen erkennen sich plötzlich als Menschen und nicht als Funktionsträger. Geschichten inspirieren zu neuen Möglichkeiten und Lösungen am Arbeitsplatz. Die Teilnehmer entwickeln tiefere zwischenmenschliche Beziehungen. Vertrauen und die Bereitschaft, gemeinsam Risiken einzugehen, werden geweckt und gesteigert. Wir entdecken unsere Gemeinsamkeiten und sind bereit, unsere Unterschiedlichkeit zu respektieren. In einer sicheren Umgebung können Einsichten und Lektionen leicht auftauchen. Unzufriedenheit und Negativität konnten durch gemeinsames Lachen und Weinen, durch berührende Mitteilungen aufgelöst werden. Die Seelen der Teilnehmer haben sich berührt – und das verbindet.“
Storytelling für Großgruppen-Interventionen
Auch mit Großgruppen-Interventionen ist Storytelling in verschiedener Weise verbunden. Harrison Owen, Erfinder der Open-Space-Konferenz, in dessen Sicht die Mythen für ein Unternehmen dasselbe sind, was die DNA für den Organismus ist, untersucht manchmal vor einer Konferenz mittels Interviews, welches die Geschichten sind, die in dem Unternehmen erzählt werden. Die sich wiederholenden Geschichten trägt er vor Beginn des Open Space vor und fragt, ob das die Geschichten sind, die man sich tatsächlich erzählt. Und damit liegen möglicherweise sehr unbequeme Wahrheiten gleich auf dem Tisch. Die nachfolgende Konferenz hat dann das Ziel, die Geschichten zu erschaffen, die man in Zukunft erzählen will.
Birgitt Williams, eine kanadische Pionierin für Open Space, nutzt Storytelling häufig am Vorabend einer Open-Space-Konferenz. Nachdem zunächst Geschichten in Paaren erzählt werden, sitzen alle in einem großen Kreis und erzählen ihre Geschichte dem großen Plenum. Dieser Prozess dauert oft bis in die Nacht hinein. Denn einmal begonnen, wollen die Beteiligten gar nicht mehr aufhören, ihre Geschichten zum besten zu geben.
In Appreciative Inquiry Summits wird sehr gezielt nach den besten, inspirierendsten Geschichten gesucht, um später eine Organisation zu entwickeln, die mehr dieser Erlebnisse möglich macht. Wenn diese Geschichten innerhalb einer solchen Konferenz erzählt werden, wird immer sehr aufmerksam zugehört. Und bei allen ändert sich ein Stück die Wahrnehmung von ihrer Organisation.
In der von Merrelyn Emery entwickelten Search Conference sitzen zu Beginn die bis zu 40 Teilnehmer in einem Kreis und erzählen sich Geschichten über Höhepunkte oder Wegmarken aus der ferneren und jüngeren Vergangenheit ihrer Organisation oder Gemeinde. Beginnend mit dem Ältesten im Raum wird so die Vergangenheit lebendig und entsteht die gemeinsame Historie neu.
In einer Real Time Strategic Change-Konferenz, die ich zusammen mit meiner Kollegin Carole Maleh leitete, tauchte eine Geschichte schon in der Planungsgruppe auf. Ein Mitglied derselben hatte unaufgefordert eine Art Märchen über die Entwicklung ihres Unternehmens geschrieben bis zu dem Moment, in dem nun die RTSC stattfinden sollte. Sie hatte die ganze Geschichte aus den Augen eines Elefanten erzählt, der zunächst ganz traurig über die Entwicklung des Unternehmens ist. Die Geschichte endet damit, dass der Elefant plötzlich gleichsam in einer Fata Morgana neue Möglichkeiten entdeckt. Das Ende blieb bewusst offen. Diese Geschichte wurde zu Beginn der RTSC Veranstaltung von der Mitarbeiterin vorgelesen. Nachdem diese Konferenz nach drei Tagen erfolgreich endete und die Teilnehmer viele neue Möglichkeiten und Wege gefunden hatten, ihre Zukunft erfolgreich zu gestalten, wurden die Teilnehmer im Abschlusskreis gebeten, die Geschichte weiterzuerzählen. Fast jeder der Teilnehmer ergänzte sie um positive Zukunftsbilder, die sie sich somit alle vorstellen und spüren konnten. Sie lachten und staunten gemeinsam über das, was der vormals traurige Elefant alles erlebte. Die Geschichte endete mit einem positiven offenen Ende, das weitere unerwartete Möglichkeiten erahnen ließ.
Geschichten erzählen ist ein uraltes Ritual der Menschheit und kann in jedem Lebensbereich bereichernd, lehrreich und heilsam sein. Bewusst eingesetzt in Unternehmen können wir wesentlich dazu beitragen, die Zufriedenheit und damit die Lebensqualität der Mitarbeiter zu steigern und Zukunftsszenarien zu kreieren, die von allen gewollt werden. Ob als Storytelling Gruppe oder eingepasst in große Konferenzdesigns – Storytelling ist eine Methode, für die die Zeit nun reif ist.
(Veröffentlicht im ‚Trainer Kontakt Brief‘ 2003)